Brauchen Kinder Grenzen?

Brauchen Kinder Grenzen?

Bei einem Coaching-Gespräch mit einer Mutter war eines der Schwerpunktthemen das Setzen von Grenzen.

„Was kann ich tun, damit mein Kind meine Grenzen respektiert?“ Mit dieser Frage beschäftigte sich die Mutter seit längerem. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte sie ständig versucht, die Grenzen gegenüber ihrem Kind anders zu formulieren, abzuändern, anzupassen. Vergebens. Das Kind überschritt die festgelegte Grenze dauernd. In ihrer Not begann die Mutter, Belohnungen und Strafen einzusetzen, mit dem Resultat, dass alles nur noch schlimmer wurde.

Kennt jemand diese Situation? Bestimmt ist diese Mutter nicht die Einzige damit. Das Verrückte daran ist, dass solche Situationen bei den meisten Familien Alltag sind und als ganz normal empfunden werden. Unter Eltern wird oft diskutiert, welche Konsequenzen bei Nicht-Einhalten einer Grenze sinnvoll sind, was man tun kann, damit sich das Kind so verhält, wie es gewünscht wird.

Leider ist es in unserer Gesellschaft weit verbreitet, mit manipulativen Machtmitteln auf Kinder einzuwirken. Ganz offensichtlich wird das Kind dabei wie ein Objekt behandelt und als Rohmaterial angesehen, welches in die gewünschte Form gebracht werden will. Das Motto lautet: Wie kann das Kind dazu gebracht werden, dies oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Aus der Hilflosigkeit heraus beginnen die Eltern an ihren Kindern zu rupfen, zu ziehen, zu schrauben, respektive sie zu erziehen.

Nur selten wird hinterfragt, ob die gesetzte Grenze denn überhaupt Sinn macht, ob es diese wirklich braucht. Ist es nicht erschreckend, dass ein Kleinkind im Durchschnitt alle neun Minuten ein ‚Nein‘ zu hören bekommt? Könnte es nicht auch sein, dass Kinder viel weniger Grenzen brauchen, als allgemein angenommen wird?

Ein Kind ist ein Spiegel seiner Umgebung und dessen, wie mit ihm umgegangen wird. Je mehr die Umgebung passt und dem authentischen Bedürfnis des Kindes entspricht, desto mehr kooperiert das Kind und desto weniger Grenzen braucht es. Eine ganz einfache Logik und unsere erlebte Praxis.

Ein glückliches Kind, dessen authentische Bedürfnisse rundum erfüllt sind, hat keinen einzigen Grund, sich negativ zu verhalten. Denn es bekommt genug von dem, was es wirklich braucht. Dies führt nicht nur zu einem inneren Gefühl des Erfüllt-Seins, sondern resultiert automatisch in einem kooperativen Verhalten des Kindes. Grenzen und Regeln werden dadurch weitestgehend überflüssig. Dies widerspricht natürlich  der landläufigen Meinung.

Wohlverstanden, wir meinen nicht, dass es überhaupt keine Grenzen braucht. Die Frage ist bloss, wie und bei wem die Grenzen gesetzt werden sollen. Automatisch wird davon ausgegangen, man müsse den Kindern Grenzen setzen.

Wie wäre es stattdessen, sich selbst die Grenzen setzen? Ein ganz neuer Gedanke für viele. Wenn ein Kind der Spiegel seiner Umgebung ist, so sind wir als Erwachsene verantwortlich, in welcher Umgebung sich unser Kind aufhält. Bekommt das Kind andauernd ein „Nein, das darfst Du nicht! Nein, Du sollst doch nicht! Nein, das ist zu gefährlich!“ zu hören, so deutet dies auf eine Umgebung hin, welche nicht auf die authentischen Bedürfnisse des Kindes abgestimmt ist. Statt dem Kind mit unzähligen Neins Grenzen zu erzwingen, ist es vielmehr nötig, bei sich selber die Grenzen zu setzen. Doch was bedeutet es genau, die Grenze bei sich selber statt beim Kind zu setzen? Hierzu gibt es drei Prinzipien:

Erstes Prinzip: Bewusstes Auswählen der Umgebung

Sehr oft führen die falschen Umgebungen dazu, Verbote auszusprechen. Durch ein Verbot wird das authentische Bedürfnis des Kindes ignoriert. Beispielsweise ein bewegungsfreudiges Kleinkind im Alter des Entdeckens und Erkundens braucht eine Umgebung, welche genau diesen Bedürfnissen entspricht. Es will sich bewegen, entdecken, erkunden. Stattdessen aber schleppt man diese Kinder oftmals an Orte, welche einzig und allein den Bedürfnissen der Erwachsenen entsprechen. Nehmen wir mal an, die Eltern besuchen mit ihrem Kleinkind ein hochstehendes Museum, so wird vom Kind in aller Selbstverständlichkeit erwartet, nichts anzufassen, nicht laut zu sein, nicht zu rennen und sich stattdessen ganz ruhig und ‚brav‘ zu verhalten. Mit dem Setzen von Grenzen wird versucht, das Kind zum gewünschten Verhalten zu bringen. Überschreitet es eine Grenze, so hat dies Konsequenzen für das Kind. Doch der Fehler liegt nicht beim Kind, sondern schlicht und einfach an der falschen Umgebung.

Zweites Prinzip: Respektieren von naturgegebenen Grenzen

Auch hier setzt man Grenzen bei sich selber , diesmal durch das Respektieren von naturgegebenen Grenzen, welche nicht einfach durch wohlgemeinte, jedoch unreflektierte Hilfe von Erwachsenen überbrückt werden sollten. Es braucht hier ganz bewusst die Grenze bei sich selbst, um nicht in die Rolle des Überbrückers zu fallen. Es ist widersinnig, einem Kind beim Erklimmen eines Baumes bis zu den ersten Ästen behilflich zu sein und ihm danach eine Grenze zu setzen, wie weit hinauf es nur klettern darf. Die naturgegebene Grenze ist bereits da, indem es das Kind gar nicht bis zu den ersten Ästen schafft. Ist es wirklich ein authentisches Bedürfnis des Kindes, einen Baum hochzuklettern, dann findet sich bestimmt ein kleinerer Baum, den das Kind alleine hochklettern und wo es von Anfang an spüren kann, was möglich ist und was nicht. Wir machten bei unseren Kinder die immer wiederkehrende Erfahrung, dass sie jeweils nur so hoch hinaufkletterten, wie sie sich selber sicher und wohl fühlten.

Drittes Prinzip: Grenzen setzen durch Ich-Botschaften

Grenzen bei sich zu setzen kann man ganz einfach durch Ich-Botschaften, im Gegensatz zu den normalerweise gebrauchten Du-Botschaften. Eine Du-Botschaft klingt vielleicht so: „Du bist schon wieder eine Stunde zu spät gekommen. Was glaubst Du eigentlich, wer Du bist? Zur Strafe bekommst Du nun eine ganze Woche lang Hausarrest!“ Eine solche Formulierung erniedrigt und verletzt das Kind und führt statt zu Kooperation eher zu Unterwürfigkeit oder Rebellion. Ganz anders klingt es in der Ich-Botschaft: „Ich habe mich sehr gesorgt und ärgere mich, weil du eine Stunde zu spät kommst. Ich möchte nicht im Ungewissen sein. Telefonierst Du mir bitte das nächste Mal, wenn Du es nicht pünktlich schaffst?“ Diese Formulierung gibt dem Kind eine Information darüber, was in dem Erwachsenen vorgeht und welche Gefühlt man gerade hat. Anliegen können somit eher gehört und verstanden werden.

Wer diese drei Prinzipien in den Alltag mit seinen Kindern integriert, wird schnell feststellen, dass sich Grenzen und Regeln weitestgehend erübrigen. Vielleicht entsteht jetzt die Frage: „Darf ich denn nun meinem Kind gar nie mehr eine Grenze setzen oder Nein sagen?“ Die Antwort lautet: „Doch.“

Wir wollen keineswegs propagieren, dem Kind alles zu erlauben. Je nach Situation braucht es ein klares Nein, um die Umgebung entspannt zu halten. Ein Kind akzeptiert ein Nein oder eine Grenze sehr wohl, sofern diese Sinn macht und sofern das Kind nicht bereits von Grenzen, Regeln und Verboten überflutet ist. „Nein, ich erlaube Dir nicht, dass Du das tust, weil…“ Ein Kind jedoch, welches von morgens früh bis abends spät von unzähligen Neins umgeben ist, nimmt diese Neins irgendwann gar nicht mehr wirklich ernst, weil es einfach zu viele sind. Es ist letztlich das Mass, welches entscheidend ist.

Selbstverständlich ist es auch nötig, das Kind vor potentiellen Gefahren zu schützen. Doch statt Grenzen zu setzen und Verbote zu verhängen, ist es viel wichtiger, dass das Kind versteht, weshalb es etwas Bestimmtes nicht tun soll. Und auch hier liegt es wieder an uns zu entscheiden, welcher Umgebung man sein Kind aussetzen möchte. Spaziert man mit einem kleinen Kind an einer stark befahrenen Strasse entlang, so lauert die ständige Gefahr, das Kind könnte völlig unberechenbar auf die Strasse rennen. Um das kleine Kind zu schützen, braucht es hier ganz gewiss Grenzen. Sinnvoller ist es, in einem Park spazieren zu gehen. Dies ist nicht nur für das Kind entspannter, sondern auch für die Begleitperson.

Und nun nochmals zurück zur Ausgangsfrage der Mutter: „Was kann ich tun, damit mein Kind meine Grenzen respektiert?“

Als ersten Schritt ist es wichtig zu verstehen, dass Kinder von Geburt an soziale Wesen sind und immer kooperieren wollen. Immer. Respektiert ein Kind eine Grenze nicht, so gibt es dafür einen Grund.

Als zweiten Schritt geht es darum, herauszufinden, wo genau der Grund für das auffällige Verhalten des Kindes liegen könnte. Dazu eignen sich folgende Fragen:

  • Was für Grenzen setze ich meinem Kind?
  • Wie viele Grenzen sind es?
  • Braucht es diese Grenzen wirklich?
  • Was sind genau die authentischen Bedürfnisse meines Kindes?
  • Respektiere ich seine authentischen Bedürfnisse?
  • Gibt es unbefriedigte Bedürfnisse des Kindes?
  • Wie können diese unbefriedigten Bedürfnisse erfüllt werden?
  • Wo überall werden dem Kind Grenzen gesetzt (Kita, Schule, Verein, Nachbarn, usw.)
  • Was genau kann ich ändern?

Einmal mehr ist es eine Umkehrung: Es ist nicht nötig, am Kind herumzuschrauben. Vielmehr sollten wir Eltern unser eigenes Verhalten hinterfragen, reflektieren und allenfalls verändern. Ist das Kind rundum erfüllt und zufrieden, so kooperiert es automatisch, ohne dass es dazu gezwungen werden müsste.

By |2016-09-10T20:00:26+02:0010. September 2016|Einfühlung, Grenzen, Lernumgebung, Reflexion|2 Comments

2 Comments

  1. Manuela Fischer-Scholl 19. Juni 2017 um 23:41 Uhr - Antworten

    Liebe Doris, lieber Bruno!
    Ein ganz wunderbares Coaching-Gespräch! Durchdrungen von Wertschätzung, radikalem Respekt und liebevoller Weisheit. Auch aus meinen Erfahrungen mit meinen Kindern und Wahrnehmungen von Eltern im Alltag kann ich alles nur bestätigen. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen und die alten Denkmuster hinter sich zu lassen. Manchmal – zumindest bei mir persönlich – hapert es aufgrund eigener Kindheitserfahrungen noch an der spontanen Umsetzung, vor allem dann wenn viel Emotionen hochkommen. Aber das ist meine Sache, nicht die meiner Kinder. Ich muß die Verantwortung für die Eltern-Kind-Beziehung übernehmen.
    Herzlichen Dank für Eure gelungene und bereichernde Ausführungen!

    • Pro-Lernen 20. Juni 2017 um 06:32 Uhr - Antworten

      Liebe Manuela
      Herzlichen Dank für Dein Feedback.
      Ja, unsere eigene Kindheit hat uns alle geprägt und grosse und kleine Spuren hinterlassen. Oftmals ist es nicht einfach, festgefahrene Muster aufzulösen oder sie überhaupt erst als solche zu erkennen. Insbesondere in Stresssituation handeln wir häufig unbewusst genau so, wie wir es als Kind selber erlebt haben. Ist es deshalb nicht wunderbar, dass wir ausgerechnet zusammen mit unseren Kindern die Chance bekommen, uns nachzuentfalten und mit ihnen zu wachsen, indem wir neue Wege gehen?
      Herzliche Grüsse, Doris

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....... ist ein vom Kind geleitetes Lernen im normalen Wohn- und Lebensumfeld der Kinder, zusammen mit ihren Eltern oder nächsten Bezugspersonen ohne jeglichen Versuch die traditionelle Schule und ihre Lehrpläne nachzuahmen. Es gibt daher keinen geplanten Unterricht oder bestimmte Zeiten am Tag, für die schulähnliche Aktivitäten vorgeschrieben sind. Themen werden behandelt, wenn das Interesse des Kindes es verlangt. Die Eltern - oder die Personen, mit denen das Kind zusammenlebt – sind weniger Lehrer als Unterstützer und Begleiter der Lebens- und Lernprozesse.

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