Interview mit Bruno und Doris Gantenbein

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Interview mit Bruno und Doris Gantenbein

Dieser Tage sind wir über ein tiefsinniges Interview mit uns gestolpert, welches vor einiger Zeit für einen Bildungs-Kogress erstellt wurde. Nun möchten wir es gerne mit Dir teilen. Für uns ist es selber auch immer wieder interessant über uns selbst zu lesen, zumal wir immer noch zu 100% hinter unseren Aussagen stehen können. Im folgenden Interview sind alle uns wichtigsten Themen kompakt verpackt und es gibt einen ganzheitlichen Überblick über die Tiefe unserer gelebten Philosophie.

Lass Dich inspirieren!


Interview mit Bruno und Doris Gantenbein:

Familie Gantenbein aus der Schweiz praktiziert Unschooling. Ihre drei Kinder (Sara 15, Olivia 12 und Nalin 10 Jahre alt) sind in ihrem ganzen Leben noch nie in die Schule gegangen und werden auch nicht unterrichtet.

Wie entstand der Gedanke, eure Kinder nicht zur Schule zu schicken?

Als unser ältestes Kind ein Jahr alt war, haben wir uns bereits mit der zukünftigen Bildung auseinandergesetzt. Wir haben uns selber die folgenden Fragen gestellt:

  • Wie können unsere Kinder am Sinnvollsten auf eine heute noch völlig unbekannte Zukunft vorbereitet werden?
  • Wie können sie die innere Kraft finden, sich den zukünftigen Herausforderungen der Gesellschaft zu stellen?
  • Wie können sie die Fähigkeit entwickeln, echte und tiefe Beziehungen einzugehen?
  • Wie wollen wir mit ihnen unser zukünftiges Leben gestalten?

Wir besuchten damals alle alternativen Schulen in der Schweiz, welche einen nichtdirektiven Ansatz nach Rebecca und Mauricio Wild pflegten. Wir merkten aber bald, dass wir noch einen Schritt weitergehen wollten. Es schien uns naturwidrig, die Kinder jeden Morgen aufwecken zu müssen, um sie anschliessend in eine Schule zu fahren und sie dort abzuliefern.

Gab es noch andere Gründe, eure Kinder nicht zur Schule zu schicken?

Wir setzten uns intensiv mit dem Thema Lernen auseinander. Im Alltag mit unserem Kind durften wir erleben, wie tagtäglich Neues gelernt wurde, ohne dass man das Kind dazu anleiten musste. Lernen findet statt, wenn man es nicht unterbricht. Parallel dazu lasen wir etliche Bücher – von Neurologen, Philosophen, Psychologen, Psychotherapeuten, usw. – und diese Autoren bestätigten unsere eigenen Beobachtungen. Das selbstbestimmte Lernen schien uns die einzige Möglichkeit, diesen angeborenen Lerndrang zu erhalten.

Hattet ihr Vorbilder?

Wir wussten damals nicht, dass es diese Art Erziehung und Bildung schon irgendwo gab. Es war unsere eigene Entdeckung und es gab nur noch diesen konsequenten Weg. Wir stellten uns vor, uns mit gleichgesinnten Eltern zu vernetzen und uns gegenseitig zu bereichern. Doch diese anderen Eltern gab es damals nicht. So gingen wir den Weg alleine, was uns nichts ausmachte. Wir haben unserem Bildungsprojekt den Namen Pro-Lernen.ch gegeben und daraufhin eine Webseite gestaltet und mit dem Blogschreiben begonnen.

Erst einige Zeit später stellten wir via Internet fest, dass sich auf der ganzen Welt Pionierfamilien und neuartige Gruppierungen völlig unabhängig voneinander in neuen und ganz ähnlichen Formen der Erziehung versuchen. Übernommen aus dem Amerikanischen nennen wir unsere Art der Kinderbegleitung Unschooling, weil wir bis heute kein besseres deutsches Wort dafür gefunden haben.

Für euch ist Unschooling mehr als bloss ‘die Kinder nicht zur Schule zu schicken’. Was genau versteht ihr darunter?

Für uns ist Unschooling eine innere Haltung. Es geht darum, wie man einem Kind begegnet, wie man es behandelt, wie man mit ihm umgeht.  Unschooling ist für und ein Weg, nicht das Ziel. Während all der vergangenen Jahre haben wir jedoch immer wieder festgestellt, dass unsere inneren Werte mit Unschooling perfekt umgesetzt werden können, weshalb wir so begeistert sind von Unschooling. Deshalb sagen wir auch: Wir praktizieren nicht Unschooling, wir sind Unschooling.

Von welchen inneren Werten sprecht ihr?

Einer der wohl wichtigsten Werte im Zusammensein mit Kindern ist die ‘Wahrende Begleitung’, ganz egal ob das Kind zur Schule geht oder nicht. Der Begriff ‘Wahrende Begleitung’ ist von uns selber und wir schreiben in unserem Buch „Das Wahren der Einzigartigkeit“ sehr ausführlich und detailliert darüber. In Kürze gesagt geht es darum, einem Kind so zu begegnen, dass seine angeborene Einzigartigkeit nicht kaputt gemacht, sondern eben gewahrt und geschützt wird.

Was versteht ihr unter ‘Wahrender Begleitung’?

Die ‘Wahrende Begleitung’ ist eine Haltung gegenüber dem Kind in Gewahrsein, Liebe und Respekt. Im Zusammensein mit Kindern ist dies die Quintessenz des Ganzen. Damit werden alle Notwendigkeiten abgedeckt, um in Beziehung zu sein.

Es geht also darum, mit dem Kind in Beziehung zu sein?

Ja, aber nicht nur mit dem Kind, sondern auch in Beziehung zu sich selbst. Denn nur wer mit sich selber in Beziehung ist, kann auch mit anderen in Beziehung sein. Das Zusammensein mit Kindern ist eine Reise zu einer erfüllten Beziehung zu sich selbst und seinem Kind. Es ist eine grossartige Möglichkeit, gemeinsam zu wachsen und immer mehr jene Eltern zu werden, die man sich für sein Kind wünscht. Denn Beziehung erlaubt den Eltern, mit den Augen des Kindes zu schauen, seine Perspektive zu sehen und sich von ihm im Herzen berühren zu lassen. Dabei sind gelegentliches Stolpern und Fehler machen ganz natürlich.

Man muss also keine perfekten Eltern sein?

Oh nein, Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Eltern sollten sich jedoch bewusst sein, dass ihre Wirkung auf Kinder unglaublich gross ist. Als Mutter oder Vater ist man ein enorm prägender Bestandteil der Umgebung für das Kind, und die Einflüsse aus der unmittelbaren Umgebung sind entscheidend, ob sie das Kind in seiner Entfaltung eher fördern oder gar behindern. Das grosse Problem dabei ist, dass die meisten Eltern selber erzogen wurden, und in der Regel mehr oder weniger unreflektiert ihre eigenen Kinder wieder ganz ähnlich erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, einfach auf subtilere Art und Weise.

Das ist ein Kreislauf. Kommt man da irgendwie raus?

Ja, und zwar mithilfe der Kinder. Kinder spiegeln kompromisslos das Verhalten der Eltern, deren innere Haltung sowie auch deren inneren momentanen Zustand, und dies kann für die Eltern manchmal ziemlich unangenehm sein. Oft möchte man lieber gar nicht hinschauen. Doch gerade hier liegt der Schlüssel und zusammen mit den Kindern kann eine Nachentfaltung stattfinden. Es scheint paradox: Je intensiver, bewusster und achtsamer man in die Welt der Kinder eintaucht, desto mehr gelingt es, eine Vogelperspektive einzunehmen und gewisse Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Nur in einem bewussten Zustand kann man sich fragen: Was bringt mich dazu, in dieser Situation genau so und nicht anders zu reagieren? Was braucht mein Kind in diesem Augenblick? Was gibt es für Lösungen?

Man kann sich mit Kindern zusammen nachentfalten?

Ganz genau. Denn Kinder sind das Leben pur. Von ihnen darf man unglaublich viel lernen und man erhält die wunderbare Chance, das verborgene Potential seiner eigenen Einzigartigkeit zurück zu gewinnen und seine eigenen ungenutzten Fähigkeiten sichtbar zu machen, neu zu entdecken, zu aktivieren und zu entwickeln. Vom Mainstream bekommt man allerdings gerade das Gegenteil gepredigt, nämlich dass Kinder hinderlich sind für die Entwicklung der Eltern. Oder auch, dass man ein Kind erziehen muss, dass man es disziplinieren muss, dass man mit Belohnungen und Strafen arbeiten muss, dass man es zum Lernen zwingen muss, usw. Doch mit einer wahrenden Begleitung ist dies alles gar nicht nötig.

Man muss also ein Kind nicht erziehen?

Nein, mit erziehen macht man sehr vieles kaputt. Ein Kind braucht Beziehung, nicht Erziehung. Doch leider wird das Kind heute vielerorts wie ein Objekt behandelt und als Rohmaterial angesehen wird, welches in die gewünschte Form gebracht werden will. Das eigentliche Problem dabei ist: Das Kind muss das aufgeben, was es will und dies bedeutet wiederum, dass es sich selbst aufgibt. Es lernt, dass seine Meinung und seine Bedürfnisse nicht wichtig sind und verlernt gleichzeitig zunehmend seine authentischen Bedürfnisse überhaupt noch wahrzunehmen.

Unschooling und das Erfüllen von authentischen Bedürfnissen gehören also zusammen?

Ja, das ist so. Bei einem authentischen Bedürfnis will sich etwas im Kind von innen nach aussen ausdrücken. Dies führt nicht nur zu einem inneren Gefühl des Erfüllt-Seins, sondern resultiert automatisch in einem kooperativen Verhalten des Kindes.

Manche Eltern sind sehr besorgt, sie würden ihr Kind zu einem Egoisten erziehen, wenn sie auf all seine Bedürfnisse eingehen.

Ein glückliches Kind, dessen authentische Bedürfnisse rundum erfüllt sind, hat keinen Grund, sich egoistisch zu verhalten. Allerdings ist es wichtig, die authentischen Bedürfnisse von den Ersatzbedürfnissen zu unterscheiden. Bekommt das Kind nämlich nicht das, was es wirklich braucht, so wird es versuchen, mit Ersatzbedürfnissen wie z.B. dem Verlangen nach Süßigkeiten, materiellen Gütern, suchtartigem Umgang mit digitalen Medien, Anerkennung bei Gleichaltrigen, usw. zumindest das zu bekommen, was irgendwie erreichbar ist, um unbewusst seinen Schmerz zu überdecken.

Muss man als Unschooling-Eltern seine eigenen Bedürfnisse zurückstecken?

Die Zuwendung zum Kind bedeutet nicht automatisch ein Abwenden von sich selber, wie irrtümlicherweise oft angenommen wird. Die Bedürfnisse der Eltern haben durchaus auch ihre Berechtigung. Allerdings kann es geschehen, dass die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund treten, sofern man es schafft, mit ganzem Gewahrsein in die Welt des Kindes einzutauchen. Wir erleben bei uns oftmals, dass wir vollkommen erfüllt sind angesichts der Tatsache, dass unsere Kinder erfüllt sind.

Unschooling braucht Zeit. Woher nehmt ihr diese?

Wir haben nicht mehr Zeit als alle anderen Menschen, nämlich 24 Stunden pro Tag. Wir nutzen sie einfach anders. Wir geben uns Zeit, in das Zusammensein mit unseren Kindern einzutauchen, um sie achtsam zu begleiten und ihre authentischen Bedürfnisse zu erkennen und auf diese einzugehen. Wir geben uns Zeit, um uns dem Rhythmus der Kinder anzupassen. Wir geben uns Zeit für die Qualität der Langsamkeit. Wir geben uns Zeit für jene kostbaren Momente, in denen das Kind im Sein versunken ist und aus denen es seine Einzigartigkeit für sich selber entdecken darf. Wir geben uns und den Kinder Zeit, um mit sich selber in Beziehung zu sein.

Ihr habt für eure Kinder eine ganzheitliche Lernumgebung gestaltet. Wie sieht diese aus?

Unter einer ganzheitlichen Lernumgebung verstehen wir, dass unbedingt Inspirationen für alle vier Qualitäten Spirit-Hand- Herz- Kopf vorhanden sein sollen. Findet das Kind bloss einen Computer oder einen Fernseher in einer kleinen Wohnung vor, so ist das bestimmt keine gesunde und schon gar keine förderliche Lernumgebung. Ist die Umgebung hauptsächlich mit kopflastigen Materialien wie z.B. Schulbüchern gefüllt, so kommen die Hand-Herz Qualitäten zu kurz. Wird das Kind vorwiegend sich selbst überlassen, so fehlen mit Bestimmtheit die gemeinschaftlichen Herz-Qualitäten. Hier könnte man noch viel aufzählen. Wichtig ist zu verstehen, dass eine ganzheitliche Umgebung hilft beim Wahren der Einzigartigkeit des Kindes.

Für eine ganzheitliche Lernumgebung braucht es doch bestimmt viel Platz?

Das ist ein Klischee. Viele Menschen gehen davon aus, dass man für ein Leben ohne Schule ein geräumiges Einfamilienhaus auf dem Lande oder ein abgelegenes Bauernhaus mit viel Umschwung und Tieren besitzen müsse. Zwar stimmt es zweifelsohne, dass man mit grosszügigen Platzverhältnissen und einer naturnahen Umgebung viele Vorteile geniessen darf. Doch letztlich ist jede Familie ist in ihrer Art einzigartig. Es sind die persönlichen Prioritäten und nicht zuletzt auch die finanziellen Möglichkeiten, welche eine Wohnsituation bestimmen. Es gibt hier weder richtig noch falsch. Wir haben während der vergangenen Jahre sehr viele unterschiedliche Unschooling Familien kennen gelernt, welche alle ganz unterschiedlich wohnen und leben. Unsere Erkenntnis ist, dass die Ganzheit der Lernumgebung viel wichtiger ist als die Reichhaltigkeit.

Könnt ihr erklären, was ihr genau unter den Qualitäten Spirit-Hand-Herz- Kopf versteht?

Spirit ist die Essenz des Ganzen. Es strahlt durch die Hand-Herz-Kopf Qualitäten hindurch und beeinflusst diese. Es beinhaltet die grundlegende Energie, um den Inspirationen die notwendige Kraft und und vor allem Sinn zu verleihen. Hand-Qualitäten sind Inspirationen zum Anpacken, zum Experimentieren, zum Kreativ-Sein, zum Bewegen, zum Tun und Schaffen, das von innen nach aussen Kommende zur Wirkung zu bringen. Herz-Qualitäten sind Inspirationen, um mit sich und anderen in Beziehung zu sein, Einfühlung geschenkt zu bekommen und sich selber zu spüren. Kopf-Qualitäten sind Inspirationen, welche vorhandenes Wissen anbieten, Logik und Zusammenhänge darstellen, Argumentieren und Reflektieren fördern.

Wie haben eure Kinder lesen gelernt?

Alle unsere drei Kinder haben sich das Lesen selber beigebracht, in ihrem ganz individuellen Rhythmus, vollkommen ohne Leistungsdruck, ohne Zeitstress, ohne Wettbewerb. Kinder, die in einem Haus voller Bücher und Buchstaben mitsamt lesenden Eltern aufwachsen, verspüren früher oder später automatisch das Bedürfnis, diese Kulturtechnik zu lernen. Als Eltern braucht es die Geduld, um in die inneren Prozesse des Kindes zu vertrauen, und als Kind braucht es die richtige Umgebung, damit das Lernen stattfinden kann.

Könnt ihr dies an einem konkreten Beispiel genauer beschreiben?

Bei unserer ältesten Tochter Sara erwachte das Interesse für Buchstaben im Alter von 4½ Jahren. Daraufhin hängten wir eine grosse Buchstabentabelle auf und richteten eine Buchstaben-Ecke ein. Sara interessierte sich aber nur für die Buchstabentabelle. Nachdem sie sich einen Monat den Buchstaben gewidmet hatte, verschwand das Interesse. Sie beschäftige sich mit vielen anderen Themen und manchmal fragten wir Eltern uns, ob sie nicht alle gelernten Buchstaben in der Zwischenzeit wieder verlernt hat. Nach einem Jahr jedoch las sie aus heiterem Himmel ganze Wörter. Obwohl äusserlich nichts zu sehen gewesen war, so war innerlich sehr viel passiert und unsere Tochter nahm genau wahr, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, um die gelernten Buchstaben zu Wörtern zu verbinden. Sie las einen Monat lang Wörter. Danach schien für ein weiteres Jahr das Interesse am Lesen brach zu liegen. Natürlich hätten wir Eltern unsere Tochter motivieren, überreden oder mit Belohnungen locken können, damit sie regelmässig liest. Uns war jedoch bewusst, dass wir damit ihren inneren Prozess gestört und unterbrochen hätten.

Nachdem nun wieder ein ganzes Jahr vergangen war, begann sie ihre erste Geschichte zu lesen. In der Bibliothek liehen wir uns weitere Bücher aus. Die meisten davon wollte sie allerdings lieber vorgelesen bekommen. Es vergingen weitere zwei Jahre, bis sie plötzlich ein sehr dickes Buch bei uns Zuhause entdeckte, welches über 400 sehr kleingeschriebene Seiten hatte. Sie benötigte mehrere Monate, bis sie das Buch fertig gelesen hatte. Heute – als richtige Leseratte – lacht unsere Tochter darüber und sagt, dass sie das mittlerweile innerhalb von wenigen Stunden verschlingen würde. Dieses Beispiel zeigt, dass man Kinder nichts lehren muss. Sie bringen es sich selber bei, sofern die Umgebung es zulässt und sofern die inneren Prozesse respektiert werden.

Es braucht also keine bestimmte Lesemethode?

Nein, es gibt unzählige Wege, lesen zu lernen. Jeder Mensch ist einzigartig und durchläuft andere innere Prozesse. Deshalb gibt es keine Lesemethode oder Leselerntechnik, welche für alle Kinder der Welt die Richtige wäre. Alle unsere drei Kinder lernten auf ihre ganz eigene Art und Weise lesen und zeigten uns stets ganz genau, was sie brauchten.

Wie kann man sich einen Tagesablauf bei euch vorstellen?

Obwohl die Gestaltung unserer Tage einen regelmässigen und immer wiederkehrenden Ablauf mit gemeinsamen Mahlzeiten, Projekten und Ritualen hat, verläuft doch kein Tag wie der Andere. Der Tag beginnt bei uns mit dem Ausschlafen. Wer nun aber meint, dass unsere Kinder dann erst gegen Mittag langsam aufstehen, täuscht sich. Zur Winterzeit stehen sie meistens um sieben Uhr auf – eines nach dem anderen, ohne Wecker. Je nachdem machen sie es sich auf dem Sofa bequem und lesen in einem Buch, oder sie spielen, und nicht selten kommt es auch vor, dass sie sich sofort wieder jenen Themen widmen, mit welchen sie den Vorabend abgeschlossen haben. Das kann also sein, dass sie noch vor dem Frühstück in eine Fremdsprache eintauchen oder an einem Brief oder an ihrem Tagebuch schreiben. Während des gemeinsamen Frühstücks besprechen wir den Tag: Was möchte jedes Kind tun; gibt es etwas, das wir erledigen sollten; haben wir Termine? Oft haben die Kinder ganz konkrete Vorstellungen, was sie tun möchten. Jeder Tag hat seinen ganz eigenen Charakter, voller Vielseitigkeit und Lebendigkeit.

Wie geht ihr mit den digitalen Medien um? Habt ihr Zeitlimits für Computerspiele oder Fernsehschauen?

So etwas kennen wir gar nicht. Wir haben zwar einen Fernseher und wir haben auch mehrere Computer im Haus, zu welchen unsere Kinder freien Zugang haben. Aber Limits sind nicht nötig. Wir haben festgestellt, dass Computerspiele und Fernsehschauen keine authentischen Bedürfnisse sind. Wenn ein Kind in einer ganzheitlichen Umgebung aufwachsen darf, so hat es einen ganz natürlichen Zugang zu den digitalen Medien. Natürlich schauen wir ab und zu mal einen ausgewählten Film zusammen. Aber es käme unseren Kindern nie in den Sinn, sich einfach so vor den Fernseher zu setzten und ‚Fernsehen zu schauen‘. Mit dem Computer ist es ganz ähnlich. Unsere Kinder benutzen dieses Medium hauptsächlich als Werkzeug zum Fremdsprachen lernen, um sich Informationen zu beschaffen, zum Geschichten schreiben, zum Austauschen mit Freunden via Mail oder Skype. Je bewusster der Umgang mit den digitalen Medien ist, desto mehr kann davon auf sinnvolle Art und Weise profitiert werden.

Wie sieht es mit der Sozialisierung aus?

Tatsache ist, dass unsere Kinder mehr als genügend soziale Kontakte haben, in allen Altersschichten. Der Unterschied zu Schulkindern liegt darin, dass sich unsere Kinder ihre Freunde nicht nach dem Alter auswählen. Vielmehr sind es ihre gemeinsamen Leidenschaften und Hobbys, welche sie verbinden. Ja, das mit den Freunden ist so eine Sache. Die meisten Menschen sind selber mal zur Schule gegangen und wissen, dass es in fast jeder Klasse Aussenseiter gibt, die keine Freunde haben. Das bedeutet, dass die Schule auch kein Garant für Freunde ist. Und wer nebst der Schule einem Hobby nachging, weiß, dass auch ausserhalb der Schule Freundschaften entstehen können. Und wer zusätzlich in einem Quartier mit Kindern gewohnt hat, durfte erfahren, dass Freundschaften mit Kindern entstanden, die gar nicht in der gleichen Klasse waren.

Wie geht ihr mit der Frage um, dass Kinder doch (mit der Schule) auf das Leben vorbereitet werden müssen?

Fast jedes Gespräch über ein Leben ohne Schule landet früher oder später bei dieser Frage. Dabei wird offensichtlich vergessen, dass Kinder ‚Kinder‘ sind und das Recht haben sollten, das Leben eines Kindes zu leben. Statt dass Kinder sich künstlich einer Erwachsenenwelt anpassen müssen, sollten vielmehr wir Erwachsenen versuchen, uns nach dem Wesen der Kinder auszurichten. Wir bereiten unsere Kinder nicht auf irgendein Leben vor, sondern wir ermöglichen ihnen ein Leben und Lernen inmitten des Lebens, genau hier und jetzt, wo es gerade stattfindet. Lernen ist mitten im Leben und das Leben selber. Wenn unsere Kinder ohne Schule aufwachsen, bedeutet dies noch lange nicht, dass wir sie in unserem Haus einschließen. Viel eher ist es umgekehrt. Sie leben ihr Leben genau da, wo es stattfindet. Unzählige Lernsituationen entstehen deshalb auf ganz natürliche Art und Weise, egal ob bei uns Zuhause, in der nahen Umgebung oder in der weiten grossen Welt.

Vor kurzem ist euer Buch „Das Wahren der Einzigartigkeit“ erschienen, welches ihr in diesem Interview auch schon erwähnt habt. Was sind eure Kernbotschaften in dem Buch?

Unsere Kernbotschaft sind die folgenden vier Prinzipien:

  • Wahren der sich von innen nach aussen entfaltenden Lebensprozesse
  • Gestalten einer ganzheitlichen Umgebung in den Qualitäten von Spirit-Hand-Herz-Kopf
  • Begleiten der Kinder in den wahrenden Haltungen von Gewahrsein, Liebe und Respekt
  • Berücksichtigen der Integralen Philosophie basierend auf einem in der Immanenz des Lebens innewohnenden inneren evolutionären Impuls

In diesen Prinzipien ist das fundamentale Anliegen enthalten, den jederzeit ganzen Menschen zu wahren und nicht zu zerstören. Die Menschen sollen nicht zu einem Leben der Pflichterfüllung vorbereitet werden, sondern zu einem erfüllten Leben der ständigen Entfaltung. Lassen wir es doch einfach zu und feiern es gemeinsam, sowohl leise als auch ganz laut, ganz im Sinne von Celebrate Unschooling.

Vielen Dank für das Interview.

By |2017-05-03T07:37:38+02:002. Mai 2017|Allgemein, Artikel, Lernumgebung, Publikationen|0 Kommentare

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Unschooling

....... ist ein vom Kind geleitetes Lernen im normalen Wohn- und Lebensumfeld der Kinder, zusammen mit ihren Eltern oder nächsten Bezugspersonen ohne jeglichen Versuch die traditionelle Schule und ihre Lehrpläne nachzuahmen. Es gibt daher keinen geplanten Unterricht oder bestimmte Zeiten am Tag, für die schulähnliche Aktivitäten vorgeschrieben sind. Themen werden behandelt, wenn das Interesse des Kindes es verlangt. Die Eltern - oder die Personen, mit denen das Kind zusammenlebt – sind weniger Lehrer als Unterstützer und Begleiter der Lebens- und Lernprozesse.

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