Geht es während eines Gespräches um unser Leben ohne Schule, so kommt nach der Frage der Sozialisation schon bald einmal die Frage nach der Einhaltung des Lehrplanes. Es wird offensichtlich bezweifelt, dass Kinder, welche selbstbestimmt lernen dürfen, auch wirklich genügend lernen. Und schlimmer noch: Viele gehen davon aus, dass diesen ‚armen Kindern‘ das Lernen verwehrt wird. Da die Meisten gar nicht genau wissen, wie selbstbestimmtes Lernen funktioniert, wird automatisch davon ausgegangen, dass nur dann gelernt wird, wenn Lust vorhanden ist. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn der Mainstream geht davon aus, dass Kinder grundsätzlich nicht gerne lernen und somit sehr selten bis gar nie Lust zum Lernen haben. Kinder müsse man zum Lernen antreiben und zwingen, sonst würden sie den ganzen Tag nur rumhängen, Computerspiele machen, Fernsehen schauen oder gar nichts tun – so zumindest klingt der allgemeine Tenor.
Unsere Erfahrungen sind jedoch gegenteilig. Kinder lernen gerne. Sehr gerne. Ja sogar liebend gerne und mit viel Begeisterung. Sie sind sozusagen kleine ‚Lernmaschinen‘. Die Fähigkeit, lernen zu wollen, ist jedem Menschen angeboren. Doch leider wird dies bei allzu vielen Kindern schon früh kaputt gemacht, indem man als Eltern, Erzieher oder Lehrer die inneren Lebensprozesse des Kindes nicht respektiert und meint, man müsse von außen her auf das Kind einwirken und vorgeben, wann genau welche Themen gelernt werden müssten. So nämlich wird die angeborene Begeisterung des Kindes mit Freude zu lernen sukzessive kaputt gemacht und das Kind lernt folge-dessen immer weniger gerne. Das Lernen wird zum Zwang.
Der in der Reformpädagogik geprägte Begriff ‚Selbstbestimmtes Lernen‘ bezeichnet einen Ansatz, bei dem Lernende selbst bestimmen, was sie wann, wo, wie und mit wem zusammen lernen. Beim selbstbestimmten Lernen gibt sich das Kind selbst vor, was es lernen möchte. Die Themen entstehen mitten im Alltag des Kindes und stehen immer in einem direkten Zusammenhang mit etwas Erlebtem. Ein Kind, welches selber bestimmen darf, in welche Themen es eintauchen darf, tut dies mit viel Freude und Energie. Das Lernen bleibt somit etwas Lustvolles, etwas Schönes, etwas ganz Natürliches.
Als für uns Eltern klar wurde, dass wir unsere Kinder durch selbstbestimmtes Lernen aufwachsen lassen möchten, war für uns gleichzeitig auch folgendes klar: unsere Kinder lernen ‚Lehrplan plus‘. Unter ‚Lehrplan plus‘ verstehen wir schlicht und einfach, dass unsere Kinder allen wichtigen Lernstoff der Schule plus noch viel Zusätzliches lernen. Dies war unser Ansatz von Anfang an. Nachdem wir nun viele Jahre mit Unschooling-Erfahrungen unterwegs sind, ist es keine Theorie mehr, sondern erlebte Erfahrung. Es ist genauso. Unsere Kinder lernen mehr als es vom Lehrplan vorgegeben ist. Selbstbestimmt, zu ihrem richtigen Zeitpunkt, mit viel Begeisterung und in aller Tiefe. Lernen ist und bleibt wahre Freude. Das ist Unschooling. Die Themen entstehen mitten im Leben, sei es im Garten, im Museum, in der Bibliothek, in einem Konzert, auf einem Spielplatz, beim Sport treiben, auf einer Reise, Zuhause, wo auch immer wir sind. Überall hat es Lernpotenzial. Für unsere Kinder ist es selbstverständlich, dass überall gelernt wird. Oft bekommen sie aber von Schulkindern zu hören, dass diese sicher nicht freiwillig ausserhalb der Schule etwas lernen würden. Für unsere Kinder gibt es keinen Unterschied zwischen Wochentagen und Wochenende. Es wird immer gelernt. Oftmals bereits vor dem Frühstück, auch an Sonntagen, frühmorgens bis spätabends. Freiwillig, ohne Druck, ohne Zwang.
Natürlicherweise gibt es auch Lernsituationen, welche unseren Kindern nicht nur Spass machen. So erklärte unsere Tochter einmal, dass sie die Dialoge im Spanisch-Lernprogramm überhaupt nicht mag. Damit sie aber bei ihren Lektionen weiterkomme, müsse sie diese eben auch machen. Dabei ist interessant, dass niemand unsere Tochter zwingt, Spanisch zu lernen. Auch wird sie von niemandem gezwungen oder gedrängt, gleichzeitig auch Englisch und Französisch zu lernen. Sie lernt alle diese Sprachen aus völlig freiem Willen. Die jüngere Tochter lernt zu Französisch und Englisch zusätzlich noch Chinesisch. Wir Eltern staunen immer wieder, mit wie viel Fleiss und Ausdauer unsere Kinder in ihre selbst bestimmten Themen eintauchen und dort trotz aller Begeisterung manchmal auch Übungen machen, welche ihnen keinen Spass machen. Für sie ist es selbstverständlich, dass dies eben auch dazu gehört, wenn man vorwärts kommen will.
Wenn wir schon beim Thema Fremdsprachen sind: Weder Spanisch noch Chinesisch stehen auf dem Lehrplan des Kantons Appenzell Ausserrhoden, welchen wir einhalten müssen. Das ist ‚Lehrplan Plus‘. Und Englisch wird erst ab der dritten Klasse und Französisch erst ab der fünften Klasse vorgeschrieben. Unsere beiden Töchter begannen jedoch schon lange vor dem vorgeschriebenen Zeitpunkt mit dem Erlernen von Englisch und Französisch. Das ist Lehrplan Plus. Eine unserer Töchter lernte über längere Zeit intensiv Französisch und arbeitete täglich im Minimum zwei Stunden an ihren Lektionen. Innerhalb weniger als zwei Monate hatte sie den ganzen Schulstoff Französisch durchgearbeitet, für welchen sie in der Schule ein Jahr benötigt hätte. Das ist ‚Lehrplan Plus‘. Sie übt diese Sprache bis heute mit viel Freude. Hier haben wir übrigens einen Blog verfasst, wie unsere Kinder Fremdsprachen lernen.
Unsere Töchter pflegten während mehreren Jahren Brieffreundschaften auf der ganzen Welt. Fast täglich schrieben sie mindestens einen aufwändig gestalteten Brief. Manchmal machten wir ein Spiel daraus und zählten die Wochenstunden Deutsch, Englisch und Französisch zusammen und kamen auf rund vier- bis fünfmal mehr Wochenlektionen als vom Lehrplan vorgeschrieben. Das ist ‚Lehrplan Plus‘.
Ein anderes Beispiel sind historische Epochen. Unsere Kinder haben sich schon der verschiedensten geschichtlichen Themen mit viel Begeisterung angenommen. Von den Anfängen der Menschheit mit der Urgeschichte, von antiken Kulturen, wie den Ägyptern, den alten Griechen oder Römern, vom geheimnisvollen Mittelalter oder der Zeit der Entdeckungen, von den alten Eidgenossen bis hin zum aktuellen Zeitgeschehen mit Terror, Kriegen und sonstigen Ereignissen. Sie wählen diese Themen nicht, weil sie im Lehrplan stehen, sondern weil sie fasziniert sind und mehr darüber wissen möchten. Unser Sohn tauchte einstweilen in das Thema Burgen, Ritter und Mittelalter ein. Hier haben wir detailliert darüber berichtet. Er behandelte dieses Thema in aller Tiefe, obwohl das Mittelalter im Lehrplan der Schule erst einige Jahre später behandelt wird. Doch wie bei so vielen Themen funktionieren unsere Kinder nicht nach einem von außen vorgegebenen Lehrplan. Ihr Lehrplan ist das Leben, gesteuert von ihren authentischen Bedürfnissen. Erstaunlich ist, dass ein Großteil der Interessen unserer Kinder ebenfalls im Lehrplan stehen, nur mit dem Unterschied, dass unsere Kinder jeweils zu ihrem genau richtigen Zeitpunkt in diese Themenfelder eintauchen.
Die Liste mit Themen für ‚Lehrplan Plus‘ könnte nun noch endlos weitergeführt werden. Doch es geht uns nicht nur darum aufzuzeigen, dass unsere Kinde mehr lernen als vom Lehrplan vorgegeben. Vielmehr geht es uns darum zu verdeutlichen, dass unsere Kinder sehr wohl den Lehrplan einhalten, auch wenn nicht immer alle Themen zur genau gleichen Zeit wie in der Schule behandelt werden. Aber früher oder später kommt sozusagen jedes Thema. Es steht und fällt mit der Lernumgebung, welche zur Verfügung steht. Und eine der wichtigsten Lernumgebungen sind die Eltern oder die nächsten Bezugspersonen, welche immer wieder für Inspiration sorgen.
In diesem Sinne nochmals: Selbstbestimmtes Lernen in einer inspirierenden Umgebung ist Lernen Pur und Lehrplan Plus!
Liebe Familie Gantenbein,
ich lese schon seit etwas längerem Euren Blog und finde ihn sehr inspirierend. Vielen Dank, dass Ihr Eure Erfahrungen teilt.
Zu diesem Artikel bewegt mich nun eine Frage:
Es hört sich danach an, dass Eure Kinder meistens das Interesse hatten BEVOR es laut Lehrplan dran ist. In anderen Unschooling-Artikeln -z.B. in den USA, wo man keinem Lehrplan folgen muss und auch keine Überprüfung von staatlicher Seite erfolgt- las ich, dass einige Kinder erst mit 9 Jahren oder später lesen lernten. Soweit ich verstanden habe, gibt es bei Euch von dem Kanton her eine Überprüfung, ob der Lehrplan eingehalten wird. Was hättet Ihr gemacht/ macht Ihr, wenn das Interesse erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgekommen wäre/aufkommt als es der Lehrplan Eures Kantones vorsieht?
Liebe Grüße von Gesa aus Dresden
Liebe Gesa
Du hast richtig verstanden, dass wir von den Behörden überprüft werden. Die Behörden fühlen sich dafür verantwortlich, dass jedes Kind den gesamten Stoff des Lehrplans vermittelt bekommt. Unsere Kinder lernen in ihrem ganz individuellen Rhythmus und da ist es selbstverständlich, dass einige Themen etwas früher, und andere Themen etwas später kommen. Nicht nur in den USA, sondern auch in der Schweiz und wohl überall auf der ganzen Welt gibt es Kinder, welche erst mit 9 Jahren oder später lesen lernen. Dies hat aber nichts mit Unschooling zu tun, denn auch in der Schule gibt es Kinder, welchen das Lesen lernen trotz klassischem Unterricht während mehreren Jahren nie so recht gelingen will.
Ein striktes Einhalten des Lehrplanes stört die natürlichen Lebensprozesse des Kindes und kann diese gar kaputt machen. Mit Unschooling will man aber gerade diese inneren Lebensprozesse des Kindes respektieren und darauf eingehen. Deshalb ist es für uns selbstverständlich absolut in Ordnung, wenn gewisse Themen des Lehrplans bei unseren Kindern auch erst etwas später als im Lehrplan vorgegeben auftauchen. Auf die gesamten Schuljahre betrachtet spielt es keine Rolle, ob in gewisse Themen nun etwas früher oder später eingetaucht wird. Wichtig ist, dass jederzeit Bildung stattfinden kann und dass die Freude und die Begeisterung am Lernen gewahrt wird.